Auf dem Boden des Neids
Je mehr die Deutschen vom Holocaust reden, desto mehr glauben sie, es sei die Tat von Außerirdischen gewesen.
Dieser Artikel erschien zuerst in DER SPIEGEL 31/2011, S. 126-128.
Die Frage, wie es zum Holocaust kommen konnte, beschäftigt die Historiker und Gedenkpädagogen bis zum heutigen Tag. Statt klare Antworten zu geben, erschaffen sie Wortungetüme: Sie sprechen vom schwärmerischen „Erlösungsantisemitismus“, vom eiskalten „Antisemitismus der Sachlichkeit“ oder vom „paranoiden Weltbild der Rassenantisemiten“. Keine Ahnung, was das sein soll, ich jedenfalls kenne niemanden in Deutschland, der einen solchen wahnsinnigen Vater oder Großvater in der Familie hatte. Die Publizistin Inge Jens schreibt, ihr Vater sei zwar in der SS, aber kein Nationalsozialist gewesen. Mein Doktorvater berichtete mir, er habe als Kind „Wehrbauer im Schwarzerdegebiet“ gespielt und sein Vater habe dem Sicherheitsdienst angehört, „Gott sei Dank in einer völlig unbedeutenden Abteilung“. Kürzlich fragte ich zwei honorige, etwa gleichaltrige Kollegen: „Was hat Ihr Vater damals gemacht? Wo war er im Krieg eingesetzt?“ Beide stockten, beide murmelten: „Äh, das habe ich nie genau erfragt. Nein, nachrecherchiert habe ich es nicht.“
Je mehr die Deutschen vom Holocaust reden, desto mehr wird er zum Fremdkörper ihrer Geschichte. Sie sprechen von „den Tätern“, wahlweise „den Nationalsozialisten“ oder „dem NS-Staat“, so, als handele es sich um Außerirdische. Einsichten sind damit nicht zu gewinnen. Gleiches gilt für Faschismustheorien. Sie verkleinern den Rassenmord zum Rückfall in vorzivilisatorische Barbarei, vernebeln ihn hinter systemischen Modellen, schieben die geschichtliche Last auf einen deutschen Sonderweg oder auf eine angeblich genau eingrenzbare Gruppe von „Ideologen“. Blasse Abstraktionen verhelfen den Anhängern solcher Theorien zu Distanz und zu dem Wohlgefühl, sie stünden auf der besseren Seite der Geschichte. Goethe spottete über derartige Selbstverblendung, dass die Theoretikerzunft „die Phänomene gern los sein möchte und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt“.
Bis heute werden einzelne Prominente dem öffentlichen Moralisieren unterzogen, weil sie 1944 als 18-Jährige der NSDAP beigetreten seien. Wenn aber mein Nachbar einen Baumstumpf ausgräbt und dabei auf eine sorgfältig verpackte Hitlerbüste stößt, interessiert das niemanden. Wer wohnte 1945 in diesem Haus? Ein alter evangelischer Pfarrer mit seiner Frau. „Liebenswürdige Leute“, so werden die beiden geschildert – liebenswürdig fanden sie auch ihren Führer. Nach einer Vorlesung zeigte mir neulich eine Studentin ihren brillantbesetzten Goldring. „Dank Ihres Buchs ‚Hitlers Volksstaat‘ weiß ich, woher der ist“, sagte sie und fuhr fort: „Der Ring passt überhaupt nicht in unsere Familie. Meine Großmutter, eine ganz einfache Frau, hat ihn 1943 in Hamburg bei Auktionen jüdischen Eigentums ersteigert.“
Kurz vor ihrem Tod kam meine Mutter auf ihre Freundin Annemarie zu sprechen. Diese habe seinerzeit ihr behindertes Baby in eine „Euthanasie“-Anstalt gegeben – auf Druck ihres Ehemanns – und immer sehr darunter gelitten. Meine Bücherregale baut ein älterer, sehr sympathischer Tischlermeister aus dem Osten Berlins. Vor einem Jahr fragte er unvermittelt: „Was machen Sie hier eigentlich?“ – „Ich schreibe gerade an einem Buch über den deutschen Antisemitismus.“ – „Ja, mein Onkel war auch dabei. Erst bei der Gestapo in Dessau, dann in Russland. Er hat meiner Mutter 1942 erzählt, wie er dort Kinder erschossen hat. Er setzte sich später in den Westen ab. Hat sich zu Tode gesoffen.“ Verlegenes, ratloses Kopfschütteln.
Die allermeisten – hunderttausende – solcher Mordgeschichten wurden niemals auch nur angedeutet, sind für immer in den Gräbern versunken. Doch mit ihren Milieu-, Hochzeits- und Soldatenfotos erzählen Millionen deutscher Familienalben mehr von den gesellschaftlichen Grundlagen Hitlerdeutschlands als jedes theoretisch und begrifflich aufgepumpte Gerede über „das NS-Regime“. So unmenschlich die Verbrechen – moralisch und rechtlich betrachtet – waren, so menschlich – im wörtlichen Sinn – bleiben ihre Voraussetzungen.
Wer nur sagt, der zum Massenmord an sechs Millionen Menschen gesteigerte deutsche Antisemitismus sei eine Folge des Antisemitismus, malt einen Dämon an die Wand und schweigt von den Kräften, die den Dämon entstehen, gedeihen und übermächtig werden ließen. Sollte man nicht besser fragen: Wann und unter welchen Umständen entwickelten die Deutschen jene Dispositionen, die es ihnen später möglich machten, die systematische Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung der Juden und anderer „Minderwertiger“ aktiv zu fördern, beifällig zu benicken oder passiv zu tolerieren? Vor 1933 stellten sich jüdische und christliche Deutsche immer wieder der Frage nach den Besonderheiten des deutschen Antisemitismus. Ihre Antworten gelten heute als zu simpel. Gerade so, als müssten besonders große Verbrechen besonders komplizierte, ja unergründliche Ursachen haben.
Die Ursachen sind ergründlich. Sie lassen sich in den 130 Jahren deutscher Geschichte aufspüren, die Hitlers Machtübernahme vorangingen. Schon 1831 meinte der jüdische Publizist Gabriel Riesser, dass der schlichte Neid im Zentrum der Judenfeindschaft stehe. Jeder Aufmerksame höre doch, dass „unter hundert Äußerungen des Unmuts gegen die Juden neunundneunzig auf diesem Boden gewachsen sind“. Heinrich Heine fürchtete sich weniger vor Reaktionären als vor deutschen Demokraten, damals Demagogen genannt, den volkstümelnden „Championen der Nationalität“ wie Ernst Moritz Arndt oder Friedrich Ludwig Jahn. Warum? Weil sie die Einheit der deutschen Kulturnation höher achteten als die universellen Menschenrechte und „bei einem Siege einige tausend jüdische Hälse, und just die besten“, abschneiden würden. Friedrich List – bis heute hochverehrter Vorkämpfer des Zollvereins und Eisenbahnbaus – förderte den „Judenhass politischer Rationalisten“, so kommentierte es ein jüdischer Zeitgenosse, der Schriftsteller Berthold Auerbach. List fürchtete den schnellen Erfolg der Juden und wollte seine christlichen Landsleute schützen.
Solchen Hindernissen zum Trotz konnten die deutschen Juden ihre Selbstemanzipation mit Bravour betreiben. Preußen garantierte ihnen 1812 zwar nicht die vollen Bürgerrechte, jedoch Rechtssicherheit, Gewerbefreiheit und gut ausgebaute Gymnasien und Universitäten für ihre Söhne, die seit je im Lesen und Schreiben ausgebildet wurden. Die in ihrer Entwicklung sehr viel langsameren christlichen Deutschen beneideten die Juden um ihre Weltläufigkeit, Urbanität und Auffassungsgabe, um ihr kaufmännisches Geschick und ihre Bildung. 1848 hieß es in einem Überblick zur Lage der israelitischen Minderheit: „Die teilweise Wohlhabenheit und besondere Erwerbsgeschäftigkeit der Juden ist es, die ihnen die Angriffe dieser Stände auf den Hals zieht, welche sich durch solche Geschäftigkeit benachteiligt fühlen.“ Die Juden schritten voran, überwanden die Klippen des sozialen Aufstiegs drei- bis viermal schneller als ihre vielfach noch kaum alphabetisierten christlichen Landsleute, die zu Hunderttausenden von den Dörfern in die neuen Industriestädte ziehen mussten.
Im Jahr 1886 brachten 46,5 Prozent der jüdischen Schüler Preußens einen höheren Abschluss als den der Volksschule nach Hause, 1901 waren es bereits 56,3 Prozent. Im selben Zeitraum kroch der Anteil christlicher Schüler, die weiterführende Schulen besuchten, von 6,3 auf 7,3 Prozent. Aus den Statistiken sticht auch hervor, wie sehr jüdische Eltern bemüht waren, die Mädchen auf höhere Töchterschulen zu schicken. Gleichfalls an der Bevölkerungszahl gemessen, besuchten im Jahr 1901 in Berlin 11,5-mal so viele jüdische Mädchen eine weiterführende Schule wie christliche. Die gymnasialen Bildungserfolge machten sich anschließend an den Universitäten geltend. In Preußen lag der Anteil jüdischer Studenten 1886/87 bei knapp zehn Prozent, der Anteil der Juden an der Bevölkerung bei knapp einem Prozent. Die Juden begannen das Studium erheblich früher, studierten schneller und legten deutlich bessere Examina ab. Die preußischen Statistiker konstatierten: „Die jüdischen Studierenden scheinen durchschnittlich mehr Befähigung zu besitzen und mehr Fleiß zu entwickeln als die Christen.“ Während die christlichen Studenten am liebsten Beamte wurden, blieb den jüdischen der Staatsdienst versperrt. Folglich mussten und wollten sich die jüdischen Absolventen in der freien Wirtschaft als Selbständige bewähren. Das gelang ihnen mit durchschlagendem Erfolg. Nach der Historikerin Shulamit Volkov zahlten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Juden in Frankfurt am Main durchschnittlich viermal so viel Steuern wie der durchschnittliche protestantische Stadtbürger und achtmal so viel wie ein Katholik. In Berlin machten die Zahlungen 30 Prozent des städtischen Steueraufkommens aus, während die Juden nur 15 Prozent der Steuerzahler und knapp 5 Prozent der Stadtbevölkerung bildeten. In anderen Städten lagen die Verhältnisse ähnlich. An diese, durchaus realen, nicht etwa eingebildeten Unterschiede knüpften die Judengegner an.
Wilhelm Marr, ein Journalist und Politiker, der 1879 den Begriff Antisemitismus ins Weltvokabular einführte, polemisierte gegen „das soziale Übergewicht des Semitismus“. Am Ende seiner in grobem Ton gehaltenen Broschüren stand stets, dass die Christen dieser oder jener Stadt so und so viel Mal weniger im Stande seien, „ihren Angehörigen eine gelehrte Bildung geben zu lassen“. Marr gehörte 1848 zum linken Flügel der Hamburger Revolutionsregierung. Seine politischen und privaten Vorhaben scheiterten. Als Verlierer, der er war, verleumdete er später diejenigen, denen der soziale Aufstieg so glänzend und weithin sichtbar gelang. Er verkaufte seine Texte als „Schmerzensschrei Unterdrückter“. „Wir sind diesem fremden Volksstamme nicht mehr gewachsen“, jammerte er im Namen der Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Für ihn stand „das flinke, kluge Israel“ gegen „die bärenhäutige germanische Indolenz“, standen die Juden, die mit ihren „Talenten wuchern“, gegen den „sittlichen Ernst“ der christlichen Deutschen.
Marr und Dutzende andere Antisemiten machten sich zu Sprechern der begriffsstutzigen Mehrheitsdeutschen. Diese verlangten und erhielten staatlichen Schutz vor den wirtschaftlich und geistig hellwachen Juden. Aber sie wussten damit wenig anzufangen. Vielmehr ließ die Protektion ihre Langsamkeit, ihr Unvermögen erst recht sichtbar werden. Das Versagen wurde peinlich. Es zehrte am Selbstbewusstsein. In dieser Situation kam die Rassentheorie gerade recht. Sie erhob die Trägen zur geistigen und seelischen Spitze der Menschheit. Unbeholfene Studenten, wenig innovative Unternehmer oder Kaufleute, die sich verkalkulierten, konnten ja nicht dauerhaft auf die besseren Ergebnisse der jüdischen Konkurrenten schimpfen. Das schadete der eigenen Moral, steigerte die Versagensangst. Es lag nahe, den Neid- und Sozialantisemitismus zur Rassenverleumdung weiterzuentwickeln. Anders als die meisten Juden ängstigten sich die meisten Deutschen vor der politischen und wirtschaftlichen Freiheit. Sie bedeutete ihnen Risiko und Unbequemlichkeit. Stattdessen flüchteten sie früh in die Wärme des Volkskollektivismus. Gleichgültig, ob sie reaktionären, konservativen oder sozialistischen Parteien anhingen, erachteten sie gemeinsam den Liberalismus als jüdisches Teufelswerk. Im Sinne der Französischen Revolution bezeichnet Egalité die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz. Die Deutschen machten daraus von Staats wegen zu garantierende materielle Gerechtigkeit. Fortan riefen sie bei jeder Gelegenheit: „Ungerecht! Wir fordern auch unseren Platz an der Sonne!“ Sie badeten in dem Gefühl der ewig Zukurzgekommenen. Sie verstümmelten den Begriff Gesellschaft zum Synonym für Staat und erkoren sich diesen zum „Vater Staat“.
An diese bis heute nicht vollständig überwundene Mentalität knüpften sämtliche antisemitischen Vereinigungen an, die in Deutschland zwischen 1880 und 1933 auf den Plan traten. Sie verlangten „Gerechtigkeit“ und „Gleichstellung“ für die Zurückgebliebenen. Ihre wichtigste, von dem Berliner Antisemiten und Hofprediger Adolf Stoecker formulierte Parole lautete: „Bitte etwas mehr Gleichheit!“ Vom Staat erwarteten sie, dass er das Volkswohl garantiere, den gemeinen Mann vor allen Unbilden und Wirtschaftskrisen, vor Lohndumping, ausländischer Konkurrenz und Juden schütze. Antisemiten schürten nicht allein Ressentiments – sie nahmen einfachen Deutschen den Ansporn, ihr Glück selbst zu versuchen, Selbstvertrauen zu entwickeln, es den Juden einfach gleichzutun.
So entstand der verspannte, mit sich unzufriedene, bald hasserfüllte Deutsche, ein Mensch ohne Mitte. Erst recht nach Krieg und Niederlage schwankte er hin und her, suchte Halt in extremen Parteien mit Gleichschritt, Uniform und Paukenschlag, voranflatternder Fahne, Feindbild, Führer und Gefolgschaft. Wolfgang Mattheuer hat ihn 1984 mit seinem Werk „Jahrhundertschritt“ verewigt. Mit wenig Rumpf und noch weniger Gehirn setzt der Kerl zum Riesenschritt an. Nackt der zum Hakenkreuzstummel scharf abgewinkelte Fuß des rechten, weit vorgestreckten Beins. Er gehört einem Menschen, der sich Schuhe nicht leisten kann. Der Fuß des linken, in Knie und Ferse ebenfalls überstark geknickten Sprungbeins steckt im gewichsten Soldatenstiefel. Der linke Arm weist als eckig geformter Hakenbalken nach oben, die Hand zur Kommunistenfaust geballt. Seinen winzigen Kopf trägt der Jahrhundertschrittler tief zwischen den Uniformkragen gezogen, halb versteckt, so als wolle er nicht gesehen werden. Die eigenen Taten und Absichten sind ihm nicht geheuer. Er zeigt sich entschlossen und ängstlich zugleich, tatendurstig, unökonomisch in seinen ausfahrenden Bewegungsaktionen – ohne Gleichgewicht. Es erscheint ungewiss, ob er, dessen rechter, zum Hitlergruß gereckter Arm ins Nichts weist, die Spannung hält, den beabsichtigten Riesenschritt schafft oder im nächsten Moment stürzt. Er bedarf der Stütze, verlangt nach Führung.
Das Gegenstück zum „Jahrhundertschritt“, den Mattheuer im Rückblick auf das Jahrhundert mehrfach formte und malte, hatte Marc Chagall 1917 im optimistischen Vorgriff geschaffen und „En avant les voyageurs“ genannt. In munteren Farben, modern und städtisch gekleidet, stürmt ein junger Jude zielbewusst voran und aus dem Bildformat hinaus. Er legt all sein Gewicht nach vorn, kann unmöglich zurück, aber er kennt die Richtung und wird sicher aufsetzen. Er atmet frei, strahlt Freude aus, Neugier, gute Laune. Mit einem Riesenschritt lässt er das Vergangene zurück. Zu seinen Füßen versinken die grünen Holzhütten des Stetls im tiefgelegten Horizont.
Der zukunftsfreudige Jude und der schwache, desorientierte, aber gesinnungswilde Deutsche rückten nach 1918 immer enger zusammen. Krieg und Inflation hatten die sozialen Unterschiede nivelliert. Die Mehrheitsdeutschen verringerten ihren Bildungsabstand, sie wussten das Leben in den großen Städten nun besser zu meistern, entwickelten stärkeren Aufstiegswillen. Die Bildungspolitiker der Weimarer Republik verdreifachten die Zahl der Abiturienten und züchteten so, ohne es zu ahnen, die junge Intelligenz des Nationalsozialismus heran. Hatten die Juden 1890 noch zehn Prozent aller Studenten gestellt, waren es 1930 nur noch vier; hatten sie 1914 im Durchschnitt das Fünffache eines Durchschnittsdeutschen verdient, war es 1928 nur noch das Dreifache und das mit schnell sinkender Tendenz.
Einen Rückgang der Judenfeindschaft bewirkte der deutliche Trend zur Angleichung jedoch nicht. Im Gegenteil. Die zunehmende Nähe steigerte den Antisemitismus derer, die ihren jüdischen Landsleuten in der Konkurrenz um beruflichen Erfolg, wirtschaftliche Positionen und soziales Prestige auf den Fersen waren. Zwischen Gruppen oder Personen, deren Erfolgskurven nur mäßig differieren, findet man häufig sehr viel aggressiveren Neid als zwischen materiell stärker unterschiedenen und daher meist räumlich getrennten Menschengruppen. „Erst das neue Gleichgefühl der Empörer“, schrieb Max Scheler 1912, gibt dem sozialen „Ressentiment seine Schärfe“. Er bezeichnete es als „seelische Selbstvergiftung“, die er auf unausgelebte, also rechtlich und moralisch gebändigte Rachegefühle, auf „Hass, Bosheit, Neid, Scheelsucht, Hämischkeit“ zurückführte.
Neid entsteht aus Schwäche, Kleinmut, mangelndem Selbstvertrauen, selbstempfundener Unterlegenheit und überspanntem Ehrgeiz, deswegen verbirgt der Neider seinen unschönen Charakterzug schamhaft. Er lehnt lauthals ab, es dem Beneideten gleichzutun. Büßt dieser jedoch seine Vorzüge und Vorteile ein, geht es ihm an den Kragen, genießt der Neider stille Schadenfreude. Verdient der beneidete Jude dann Mitleid oder gar Beistand? Nein! Er wusste doch stets alles besser! Hatte immer die Nase vorn! Hatte immer eine große Klappe! Möge er sich selbst verteidigen! So beruhigt der Neider seine moralischen Restskrupel, steckt die Hände in die Tasche und gibt die verfolgte Unschuld. Wenn andere den Beneideten drangsalieren, entrechten und deportieren, sagt sich der kleine Neider: „Was geht mich das an!“ Sein Gewissen bleibt ruhig. Er ist es nicht gewesen.
Einer dieser späten Aufsteiger war mein Münchner Großvater Friedrich, ein herzensguter, als Soldat in keinem Krieg zu gebrauchender Mensch. Als meine achtjährige Mutter 1931 immer wieder in das nahe gelegene jüdische Kaufhaus Uhlfelder entwischte, um auf der ersten Rolltreppe der Stadt zu fahren, bedeutete er ihr milde, aber deutlich: „Dort gehen wir nicht hin!“
Götz Aly ist Historiker und Journalist. Sein Buch „Warum die Deutschen? Warum die Juden? – Gleichheit, Neid und Rassenhass“ ist 2011 im S. Fischer Verlag erschienen.