Heimat und Migration

Francesca Vidal

Oder: Der Versuch, Heimat als etwas zu sehen, worin noch niemand war

Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag bei der Fachtagung „Identität und Migration – Heimat als Utopie?“, Ludwigshafen 2007.

Im Zeitalter der Globalisierung nehmen weltweite Wanderungen, sprich Migrationen, beständig zu. Und wer wandert, aus- oder ein-, freiwillig oder gezwungen, der verlässt erst einmal das, was ihm bisher Heimat war. Für Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt woanders suchen, und dies vielleicht mehrmals, ist Heimat etwas Verlorenes. Sie denken an Heimat mit Verlustgefühlen. An Heimat denkt man, wenn man sie verlässt, oft in Heimweh.

Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, sind gezwungen, die eigene Identität neu zu entwerfen und neu zu verantworten. Sie müssen kreativ sein. Gerade wenn sie dabei auf Ablehnung wegen ihres vermeintlichen Andersseins stoßen, erinnern sie sich im besonderen Maße an das Verlorene. Jetzt erst taucht die Frage nach dem Wert des Verlassenen auf, jetzt werden alte Heimat und neue Lebenswelt wirklich miteinander verglichen. Tritt die Forderung nach Integration dann noch mit dem Anspruch auf, der vermeintlich Fremde habe sich einzufügen, solle, um sich zu integrieren, seine Besonderheiten in Frage stellen, geht dies fast automatisch mit einer Rückbesinnung auf etwas einher, was man als das Eigene, Andere, Besondere zu bestimmen meint. Gerade die Ablehnung führt dazu, dass man sich gezwungen sieht, die vermeintlich eigene Kultur, die Riten, die Kunst, die Nahrungsmittel als Besonderheit hervorzuheben. Die Gesellschaft aber nutzt dies im Sinne der Konsumenten, die Vielheit wird nur als Markt akzeptiert und als Nebeneinander propagiert.

Das oft in der Nationalität begründete Besondere wird dabei zur Bricolage aus Klischees über die Heimat, die man verlassen hat. Diese Vorstellungen nähren sich nicht nur aus eigenen Erfahrungen oder verklärenden Rückschauen, sondern speisen sich oft auch aus genau den Vorurteilen, denen man entgegnen will. Und so entspricht höchstens ein Spanier, Türke oder Deutscher, der in der Fremde lebt, den Klischees vom Spanier, Türken oder Deutschen. In den Ursprungsländern findet man solche Entsprechungen viel schwieriger.

Das gilt dann sogar noch für die Nachgeborenen, die sogenannten Migranten der zweiten oder dritten Generation, weil auch für sie der neue Lebensmittelpunkt nicht zu so etwas wie Heimat geworden ist. Nur gelingt es ihnen meist besser, damit zu provozieren: sei es, wenn die junge, gut gebildete, voll integrierte Muslima plötzlich mit Kopftuch kandidieren will – wie zur Zeit in Dänemark – oder wenn aus dem türkisch-deutschen Sprachgemisch eine eigene Kulturströmung sich entwickelt wie die Kanak-Attack.

Erschrocken reagiert die Gesellschaft, wenn internationale Vergleichsstudien deutlich machen, dass Kinder mit Migrationshintergrund – selbst wenn sie die Landessprache als Muttersprache sprechen – nicht die gleichen Bildungschancen haben wie vermeintlich deutsche Kinder. Die Untersuchungen über die Gründe für Bildungsbenachteiligungen ergeben deutlich, dass negative Stereotype zur „Selffulfilling Prophecy“ werden.

Umzugehen mit der Bedrohung, dem Stereotyp möglicherweise zu entsprechen, erfordert so viele mentale Anstrengungen, dass Schulleistungen ihre Bedeutung für das Selbstkonzept verlieren. Und Lehrer, die beständig davon ausgehen, dass das Leistungspotential bestimmter Schülergruppen geringer ist als das anderer, werden durch die Art ihres Umgangs mit diesen Schülern in ihrem Vorurteil bestätigt, da sie die Schüler in die Rolle drängen. Selten wird dann über den eigenen Anteil an diesem Dilemma nachgedacht.1

So wichtig die Eigenleistung der Migranten im Integrationsprozess auch ist und so bedeutsam die Toleranz und das zivilgesellschaftliche Engagement der Einheimischen, beides reicht nicht aus, um die Gesellschaft für beide Seiten zur Heimat werden zu lassen. Viel wichtiger sind die subtilen Prozesse, die sich den Wahrnehmungen und Handlungsabsichten so oft entziehen. Ich will hier nur auf einen Aspekt dieser Prozesse eingehen und damit beim Thema Heimat bleiben. Können wir uns Lehrer vorstellen, die sich als Begleiter auf dem Weg, Heimat zu finden, verstehen? Lehrer also, die davon ausgehen, dass die Schüler ihren Lebensmittelpunkt zur Heimat werden lassen wollen, die folglich offen sind für ein mögliches Anderswerden des Bestehenden.

Sicher ginge dies nur, wenn beide Seiten – Einheimische und Einwanderer – eine Vorstellung davon hätten, dass etwas auch Heimat werden könne. Dafür aber braucht es ein Bewusstsein, dass Heimat in den Zusammenhang mit Kultur stellt als Ergebnis eines Prozesses, als Zusammenkommen von Eigenem und Fremdem, womit immer eine ständige und gegenseitige Veränderung gemeint ist. Heimat als Ergebnis gemeinsamen kulturschöpferischen Handelns, Heimat nicht nur als Gefühl, sondern als berechtigter Anspruch.

Heinrich Böll soll einmal gesagt haben, ein religiöser Mensch sei daran zu erkennen, dass er sich in dieser Welt nie ganz daheim fühlt – er hat das Bewusstsein, dass alles Positive, was er mit dem Beheimatetsein verbindet, noch nicht gegeben ist, aber kommen wird. Für den religiösen Menschen mag sich dies erst jenseits der Welt erfüllen, aber lässt es sich nicht auch auf die Erde holen – im Sinne der Utopie einer besseren, einer bewohnbaren Welt?

So geläufig aber ist die Wendung „etwas solle Heimat werden“ nicht. Sehr selten sprechen wir von Heimat als etwas Zukünftigem. Denn bei Heimat assoziieren wir Gefühle und innere Einstellungen, die sich auf Vergangenes beziehen. Wir vergessen schnell, dass Heimat auch etwas mit sozialpolitischen Rahmenbedingungen zu tun hat, mithin auch mit denen, die es erst zu schaffen gilt.

Aber sei es im Sinne des Heimatrechts, wie es 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde, um das Recht des Menschen auf Verlassen seines Staates und zur Rückkehr dahin zu schützen, oder im Sinne eines besonders innigen Verhältnisses zur Landschaft des Geburtsortes, wie es das bürgerliche Heimatbild des 19. Jahrhunderts beschwor, sei es die nationale Gleichsetzung von Heimat und Vaterland als Identifikationsangebot, um die immer größer werdenden gesellschaftlichen Gegensätze durch Verklärung der Vergangenheit zu übertünchen, oder sei es die heutige kommerzielle Nutzung von Heimatgefühlen als Kulisse – immer denken wir an Vergangenes und fast immer tun wir uns schwer mit dem Begriff.

Auch etymologisch ist es schwierig. Mittelhochdeutsch „heimuot“, laut Kluges Etymologischem Wörterbuch meint dies Stammsitz. Die Grimms definieren Heimat als das „land oder auch nur den landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden aufenthalt hat“. Heimat muss vom Germanischen „Heim“ kommen und das bedeutet so viel wie Welt, Erde, Wesen, Boden, Wohnung, Siedlung, Sicherheit, aber auch Stammsitz und Erbsitz, also auch Recht auf Heimat. Der Erbe blieb auf der Heimat, die anderen wurden heimatlos. Im 16. Jahrhundert war es die Pflicht der Gemeinden gegenüber den Armen, sie mussten ihnen Aufenthalt gewähren.2

Auf keinen Fall meint Heimat einfach Herkunft. Darauf wird der Begriff gerne von Heimatvertriebenenverbänden reduziert, die dann ihren – wie verräterisch schon das Wort – „Lebensraum“ dominant setzen. Da löst der Begriff Heimat dann Unbehagen aus, man denkt an röhrende Hirsche oder ähnlichen Heimatkitsch oder an die vielen Volkshitparaden, die sich so großer Beliebtheit erfreuen, dass man Angst bekommt, es gäbe zu viele von den ewig Gestrigen. Wer hängt schon an Heimatkunst? Um 1900 gab es eine Heimatkunstbewegung, die war gegen die Moderne, sprach im völkischen Tonfall und verstand sich als Opposition zu Industrialisierung und massivem Wachstum der Städte. Heimat war das Gestern, die Zeit, in der alles besser gewesen sein soll. Mit Großstädten verband man die Angst vor der Entwurzelung, die konnte man sich nur vorstellen, wenn der Boden greifbar blieb.

Arbeiter waren gezwungen, sich zum Verkauf ihrer Arbeitskraft von sozialen, regionalen und beruflichen Zusammenhängen zu trennen. Heute nennen wir dies Mobilität, damals sprach man von Vogelfreiheit und Heimatlosigkeit. Ersetzt werden sollte die fehlende Heimat durch Häuslichkeit und Familienhalt. Herbergen sollten Heimat sein, um die Wandernden vom Vagabundenleben zu entwöhnen. So erblühte ein naives Heimatverständnis, das Heimat mit Dorf gleichsetzte und Träume von der ewigen Heimat beschwor. Gerade diese Versatzstücke boten Anknüpfungspunkte zur Instrumentalisierung.3

Die nutzten die Nationalsozialisten; auch wenn „Heimat“ sie nie ernsthaft interessierte. Ihnen waren Heimatverbände und Trachtengruppen, gar Heimatforscher eher unheimlich. Selbstverständlich haben sie diese gleichgeschaltet und politisch genutzt, aber den Begriff Heimat wollten sie vermeiden. Wie sollten sie auch anerkennen, dass Heimat etwas Unverletzliches sein könnte, das widersprach ihren expansionistischen Plänen. Heimat aber war regionalistisch organisiert, daher verachteten sie regionale Dialekte und Trachten. Heimatgeschichte war unwichtig, schon den Nationalsozialisten diente sie als Kulisse und Material, sowohl für Tourismuswerbung als auch um die Bevölkerung durch folkloristische Versatzstücke und Geschichtsklitterung an die „Volksgemeinschaft“ zu binden – man denke nur an die Geschichte der Deutschen Weinstraße. Was ihnen nutzte, waren die nebulösen Sehnsüchte, die starken Emotionen, die der Begriff auszulösen vermag.4

Tatsächlich nachgedacht über die Heimat haben zur damaligen Zeit die, die ins Exil getrieben wurden. Die unfreiwillig Reisenden. „Glück der Reise jedenfalls“, sagt Ernst Bloch, „ist und bleibt zeitwilliges Entrinnen ohne Nachforderung von zu Hause, ist durchgreifende Umstellung ohne äußeren Zwang zu ihr.“5 Wie makaber, dass die Nazis in Frankfurt am Main ein Mitteleuropäisches Reisebüro errichteten, das die Reise ins Vernichtungslager organisierte. Und die, die von einem Exilort zum anderen flohen vor denen, die ihre Heimat zerstörten, dachten wehmütig an die Orte der Kindheit und reflektierten, was Heimat sein könnte. Walter Jens sagt deshalb: „Nur die Poesie der Ausfahrer, Exilierten und Vertriebenen kann adäquat beschreiben, was Heimat ist – nicht Dichtung der Nesthocker, die ihr heimeliges Glück im Winkel besingen, Provinzialität für Bodenständigkeit halten ...“6

Aber so einfach ist es wieder nicht, hieße dies doch, wer die Heimat nur im Unterwegs kenne, der suche das Verlorene halt in der Zukunft. Nein, er sucht eine Perspektive, die erst erobert werden will, und dies ist ein schwieriger Weg. Auch Ernst Bloch erinnerte sich wehmütig an die Heimat. Und spricht er von der Kindheit, betont Bloch, er komme aus Bayern.

Seine Auskunft ist jedoch eine politische und kein Ausdruck einer besonderen Heimatverbundenheit. Er verweist auf eine durch viele Kulturen geformte Landschaft und verrät über sich selbst, dass er zur einfachen Bevölkerung in bayrischen Landen gehöre, dem Gebiet der zumeist armen und bedrängten Wittelsbacher, nicht zu den preußischen Junkern und Machtbesessenen. Was er damit sagen wollte, ist, dass eine durch so viele Kulturen geprägte Landschaft deren Menschen ermöglichen müsste, die Dinge um sich herum differenziert wahrzunehmen, nicht durch den Zerrspiegel einseitiger Vorurteile. Er gibt der Hoffnung Ausdruck, dass solche Landstriche durch das Handeln der dort Lebenden Heimat werden könnten. Und dies zu einer Zeit, in der die Menschen dieser Region sich eindeutig gegen das Werden entschieden hatten.

Bloch aber analysiert versperrte Möglichkeiten, um ihnen eine Perspektive des Besseren entgegenzuhalten. Boden zur Heimat kann nur da sein, wo Menschen schöpferisch handeln können, wo sie die Möglichkeit des Anderen offen halten, wo sie hinausdenken aus bedrängter Gegenwart. Das sind Verhältnisse, wie es sie noch nie gab. Es wird sie nur geben, wenn Menschen die Welt menschenwürdig umgestalten – auf Zukunft hin. Deshalb ist Sprechen über Heimat nie unproblematisch, wir hüten uns vor eindeutigen Bestimmungen und bleiben lieber auf der Ebene des Gefühls. Schließlich bergen alle Gesellschaften die Gefahr der Einengung und da bietet sich die Heimatmetaphorik an, um sie für miese Zwecke zu missbrauchen. Aber vielleicht gilt dies auch nur für Menschen meiner Generation oder noch älter. Wie sehen es Jüngere?

In einem Seminar an der Universität in Landau wollte ich herausfinden, wie Studierende über Heimat sprechen. Viel unvoreingenommener, lässt sich als Ergebnis vorwegnehmen. Eine Heimat im Sinne eines abgegrenzten, überschaubaren und vergleichsweise stabilen Ortes mit der Möglichkeit von Einbindung und Zugehörigkeit via Herkunft kennen sie doch nicht mehr. Zum einen verändern sich Gegenden sowohl landschaftlich als auch architektonisch sehr schnell, zum anderen sichern auch die darin eingebetteten sozialen Strukturen, Beziehungen und Lebensweisen kaum noch Kontinuität. Schaut man in sozialwissenschaftliche Analysen der Zeit, heißt es, der heutige Mensch habe aufgrund der rasanten Entwicklungen den Orientierungsrahmen verloren, habe kein Vertrauen mehr, dass die Gesellschaft den Rahmen schaffe, in welchem er seinen Lebensentwurf planen kann. Aber weiterhin hat er Sehnsucht nach Vertrautheit und Geborgenheit. Was heißt dann Heimat für heutige Studenten? Suchen sie neue Wege der Beheimatung?

Zukünftige Grundschullehrer wollen ganz selbstverständlich im Bereich Sachkunde vermitteln, was Heimat ist. Heimatkunde heißt das Fach seit 1969 nicht mehr, dabei ging es auf die Weltkunde des Sozialreformers Johann Heinrich Pestalozzi zurück, wollte nie Herkunft beschwören, sondern Kenntnis über Vielheit. Nur – auch die zukünftigen Lehrer, die doch mit Kindern aus so vielen verschiedenen Herkünften zusammenkommen, die täglich Menschen vor sich haben werden, die Heimat suchen, sprechen nicht vom Heimat werden. Sie entwickeln Konzepte, um Kindern die lokalen Gegebenheiten zu vermitteln, den lokalen Raum in seiner Geschichte zu erkunden und halten sich dabei an die vorgegeben Lehrpläne und die Informationen der Tourismusbüros. Verwirklichen wollen sie Sach- und Handlungskompetenz, also ganz selbstverständlich meinen zukünftige Lehrer, durch ihren Heimatunterricht werden Kinder lernen, sich einzurichten. Ihre Konzepte enthalten also tatsächlich etwas von Zukunft, sie wollen den Kindern vermitteln: Wenn ihr euch hier auskennt, könnt ihr lernen, euch daheim zu fühlen. Das jemand von ihnen selbst eventuell in ein anderes Bundesland oder Land gehen könnte, wollen sich Lehramtsanwärter aus der Pfalz ungern vorstellen.

Sich heimisch zu fühlen und sich auszukennen meint aber noch lange nicht, dass etwas für Kinder anderer Herkunft Heimat werden kann. Aber die Lehramtsanwärter suchen zumindest über den Sachunterricht Möglichkeiten der Integration. Heimisch fühlen, das läuft dann vor allem über die Sprache. Sprechähnlichkeiten und vertraute Stimmen beeinflussen das Gefühl sich heimisch fühlen zu können. Sie sind sogar förderlich beim Erwerb einer Zweitsprache, wenn in der „fremden“ Sprache vertraute Töne anklingen. Viele Deutsche glauben, sich zu integrieren heißt, die Sprache zu beherrschen. Wer fehlerhaft spricht, wird stigmatisiert. Und wer korrekt spricht, erst recht, denn wer Hochdeutsch spricht, fällt in vielen Regionen auf. Welcher Pfälzer, welcher Bayer, welcher Schwabe, will schon Standarddeutsch als Maßstab für richtiges Sprechen? – Zudem sei noch einmal erinnert, selbst Kinder mit Deutsch als Muttersprache werden mit anderen Augen gesehen, wenn ihre Familie fremder Herkunft ist.

Einigkeit bestand aber unter Studenten, dass sie von einem Lebensgefühl sprachen. Und sie suchten dies durch Verbindung und Einbettung, im Sinne der sozialen Einbindung und der dazugehörigen Anerkennung, auch im Sinne eines Sich-in-Beziehung-Setzen zur Welt. Deshalb war ihnen der Bloch'sche Heimatbegriff sympathisch. Heimat als Ort, an dem Menschen mit den Naturverhältnissen und den gesellschaftlichen Bedingungen in Einklang sein könnten.

Unsere Sehnsucht scheint in die Kindheit, denn wir erinnern uns der Möglichkeiten, die wir erkannten durch den liebevollen Umgang mit uns. Das Gefühl der sicheren Obhut und des Angesprochenwerdens erinnert an die Zeit, in der wir ohne Scheu und voller Hoffnung in die Zukunft schauten. Dies sind die Sehnsüchte, die wach werden, wenn unsere Heimatgefühle angesprochen werden. Aber was es heißt, die Welt in Heimat umzubauen, dem wollten die Studenten sich nur unwillig nähern. Hieße dies doch, das Jetzt in Frage zu stellen, sich erst einrichten zu können, wenn auch andere dies können.

Wenn wir wie Bloch die Welt vom gelungenem Ende her denken wollen, dann heißt das, dass wir uns nicht im Jetzt einrichten können, dann müssen wir aktiv werden in der Gestaltung einer Gesellschaft mündiger Bürger. Erst wenn das Vorgefundene, Stoff und Geist in eins, durch praktisches Handeln gestaltet wird, kann das im Bild des Nach-Hause-Kommens ausgedrückte Wollen einer besseren Welt Wirklichkeit werden. Deshalb endet das Prinzip Hoffnung mit den Worten: „Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“7

Diese Heimat sieht schon der Philosoph Ernst Bloch als ein Ineinander der Kulturen, was bei ihm viel weiter geht als die Anerkennung der Verschiedenheit. Er hat dies im Begriff des Multiversums gefasst und fordert damit auf, sich zu fragen, wo die Differenz zwischen unerfüllter Gegenwart und verhinderter echter Zukunft liegt und welche Fortschrittsbewegung weiter gedacht werden muss, um das Unerfüllte – den Umbau der Erde in Heimat – voranzutreiben. Freilich sind dann alle Heimaten, die wir auf Zukunft hin schaffen, nur Provisorien. Provisorische Heimaten, die wir immer wieder verlassen werden, um uns in neuen Provisorien einzurichten.

Was – um auf die Lehrerausbildung zurückzukommen – gefordert wäre, wäre demnach ein Bildungskonzept, das Heimatkunde versteht als Vorbereitung für ein Leben in diesen multiversen Provisorien8 mit dem utopischen Ziel, die Welt Heimat werden zu lassen. Mit diesem philosophischen Appell möchte ich meine Ausführungen hier schließen und freue mich auf die Diskussion mit Ihnen.

Fussnoten

1 Janet Ward Schofield u. a. „Migrationshintergrund, Minderheitenzugehörigkeit und Bildungserfolg. Forschungsergebnisse der pädagogischen, Entwicklungs- und Sozialpsychologie“. Arbeitsstelle Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration (AKI) am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). www.aki.wz-berlin.de

2 Zur Problematik des Begriffes Heimat vgl. Hermann Bausinger. „Heimat in einer offenen Gesellschaft. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte“. Jochen Keller, Hg. Die Ohnmacht der Gefühle. Heimat zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Weingarten 1986, S. 89-115.

3 Vgl. Herbert Schwedt. „Der Heimatbegriff von der Kaiserzeit bis zur Gegenwart“. In: Heimatbewegung und NS-Kulturpolitik in Hessen, Pfalz, Elsaß und Lothringen. Förderverein Projekt Osthofen e. V., Hg. Osthofen 1999, S. 8-13.

4 Vgl. Franz Staab. „Die Heimatfreunde am Mittelrhein“, insbesondere den Abschnitt 4: War die Heimatgeschichte durch den Hitlerismus kompromittiert?. In: Heimatpflege. Dokumentation des Festtages am 14. Juni 2000. Vereinigung der Heimatfreunde am Mittelrhein e. V., Hg. Bingen: 2000.

5 Ernst Bloch. Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S. 430.

6 Walter Jens. „Nachdenken über die Heimat“. Horst Bienek, Hg. Heimat. Neue Erkundungen zu einem alten Thema. München; Wien: 1985, S. 17.

7 Ernst Bloch. Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S. 1628.

8 Für Vilém Flusser etwa geht es nur um die Einrichtung in diesen Provisorien als ständige Bewegung in das Neue, die Kreativität erst freisetzt. Vgl. Vilém Flusser. Von der Freiheit der Migranten. Berlin: Philo Verlagsgesellschaft, 2000.

PD Dr. Francesca Vidal ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Koblenz-Landau. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Rhetorik und die Philosophie von Ernst Bloch.