Zehn Vorschläge

Jochen Müller

zur pädagogischen Bearbeitung des Nahostkonflikts und gegen Antisemitismus

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Artikel „Warum ist alles so ungerecht?“ Antisemitismus und Israelhass bei Jugendlichen: Die Rolle des Nahostkonflikts und Optionen der pädagogischen Intervention des Readers „Die Juden sind schuld“. Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft am Beispiel muslimisch sozialisierter Milieus der Amadeu-Antonio-Stiftung.


 
Aus Erfahrungen in der praktischen Arbeit mit Jugendlichen arabischer und muslimischer Herkunft zum Nahostkonflikt haben sich einige Schlussfolgerungen für die Pädagogik herauskristallisiert. Dabei sind einige der im Folgenden aufgeführten Punkte bereits seit langem Bestandteil von Rahmenplänen und allgemeinen pädagogischen Richtlinien wie dem Beutelsbacher Konsens. Es gilt jedoch, diese allgemeinen Vorgaben gerade auch in der Pädagogik mit Jugendlichen migrantischer Herkunft umzusetzen. Die nachfolgenden Vorschläge dazu erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und „garantierter“ Wirksamkeit im pädagogischen Setting. Sie dienen vielmehr der allgemeinen Orientierung.


 
1. In der Beschäftigung mit dem Nahostkonflikt sollte nicht jeder Ausdruck von Hass oder Ressentiment gegenüber Israel und dessen Politik gleich als Antisemitismus verstanden und behandelt werden. Gelassenheit und gezieltes, auch Irritationen auslösendes Nachfragen hilft im Zweifelsfall weiter als Skandalisierung (etwa durch Verwenden dieses Begriffs). Es gilt auch hier: Pädagogik soll sich auf die Initiierung und Aufrechterhaltung eines Dialogs konzentrieren und die Jugendlichen nicht durch Moralisierung und emotionale Aufladung überwältigen. Nicht um Belehrung geht es – Ausgangspunkt des Dialogs sind die Meinungen, Kenntnisse und Vorurteile der Jugendlichen selbst. Dabei sollte die Position des Individuums im Blick behalten und nicht stellvertretend für eine Gruppe (etwa „der Araber“, „der Palästinenser“ oder „der Muslime“) behandelt werden.

2. Zu Dialog und gezieltem Nachfragen gehört auch, die Erzählungen von Jugendlichen aufzugreifen und anzuerkennen. Wesentliche Bestandteile dieses Prozesses müssen – falls in der Gruppe vorliegend – ihre eigenen Schilderungen von Leid und Unrechtserfahrungen sein (die „arabische Perspektive“). Dabei kann „biografisches Nachfragen“ hilfreich sein: Wenn sich Jugendliche um ihre zwar als bedeutsam erklärte, ihnen aber meist unbekannte Familiengeschichte kümmern und jenseits von politischen Schlagworten bei Eltern und Verwandten Konkretes über Heimat, Flucht und Migration in Erfahrung bringen, erwerben sie nicht nur konkretes Wissen, welches Mythen- und Ideologiebildungen erschwert. Überdies stärkt die Möglichkeit, sich reflektierend auf eine bewusst gemachte Vergangenheit beziehen zu können, die Persönlichkeit und erleichtert den Blick nach vorn. (Dies gilt erst recht für Erzählungen von - z.B. türkischen - Jugendlichen, die nicht „aus erster Hand“ berichten, sondern sich mit der Geschichte von Palästinensern verbunden fühlen: Ihnen könnte verständlich gemacht werden, das sie an diesem Beispiel nicht selten ihre eigenen Fragen und Probleme abhandeln.)

3. Im Rahmen solcher Erzählungen können zudem Opferperspektiven verlassen werden und eine „Neuerzählung“ kann an deren Stelle treten. Zwar sollen Opfer zunächst einmal anerkannt werden: Flucht, Vertreibung, Migration und Diskriminierung sind historische wie aktuelle Erfahrungen, die von vielen Menschen als extreme Brüche in ihrer Biografie erlebt und in Erzählungen über Generationen hinweg weiter gegeben werden. Dabei sollte man indes nicht stehen bleiben. Vielmehr können die „eigenen Leute“ auch als Akteure in den Blick genommen und ihre Leistungen als solche anerkannt werden: Flucht, Migration und vor allem Integration sind Leistungen von Eltern und Großeltern, die dem Wohl der Familie dienen und Respekt und Würdigung verdienen, statt in einer allgemeinen Geschichte von Verlust, Leid und Frustration unterzugehen.

4. Dabei stehen Pädagogen und Pädagoginnen vor einem äußerst schwierigen Balanceakt: Sie müssen versuchen, zwischen „authentischer“ Erfahrung und solchen verzerrenden Darstellungen zu unterscheiden, die insbesondere im Fall des Nahostkonflikts Ausgangspunkt von Feindbildkonstruktion und Ideologiebildung sein können. Hier sollten rationale Alternativen zu einseitigen Deutungen (etwa des Konfliktgeschehens) aufgezeigt werden, um Darstellungen zu begegnen, die nicht selten vor allem dazu dienen, Ressentiments und Feindbilder zu bestätigen. Das setzt neben großer Sensibilität auch Wissen und Kenntnisse über Geschichte und Gegenwart des Nahostkonflikts voraus. [...]

5. Die Einseitigkeit vieler Darstellungen des Nahostkonflikts, die Deutungen in Form von Feindbildern bis hin zu antisemitischen Verschwörungstheorien nahelegen, kann durch Multiperspektive und kontroverse Darstellungen durchbrochen werden. So sollten neben der grundsätzlichen Würdigung einer „arabischen Perspektive“ (besser noch: vieler unterschiedlicher „arabischer Perspektiven“) auch verschiedene „israelische Perspektiven“ als Optionen zur rationalen Erklärung von Ereignissen und Entwicklungen erkennbar werden. Insbesondere könnte hier das Bedürfnis nach Sicherheit hervorgehoben werden: Die Geschichte von Verfolgung und Flucht der Juden sowie die deutsche Vernichtungspolitik können die Flucht nach Palästina und die Gründung des Staates Israel als ein Ort des Schutzes für Juden nachvollziehbar machen. Illustrieren lässt sich auch die kontinuierliche Bedrohung des territorialen Ministaats - etwa durch Landkarten und in Form von Verweisen auf historische wie aktuelle Vernichtungsdrohungen gegen Israel. Vor diesem Hintergrund von Geschichte und Gegenwart kann eine „israelische Perspektive“ des Konflikts vermittelt werden – nicht als die „richtige“, aber als eine, die auch ihre Berechtigung hat und den Jugendlichen angesichts der illustrierten Bedrohungen zumindest nachvollziehbar erscheint und das Verstehen jenseits von Ideologien erleichtern kann. (Es bietet sich an, dies von den Jugendlichen selbst erarbeiten zu lassen.)


Ganz wesentlich ist es im Rahmen von Multiperspektivität auch, kollektive Ideologien und Gemeinschaftsgefühle („Wir“ und „Die“) zu unterlaufen. Die Heterogenität der israelischen wie der arabisch-palästinensischen Seite können dargestellt und auf diese Weise homogene Selbst- und Fremdbilder infrage gestellt werden: So waren historisch nicht alle Palästinenser gegen die Einwanderung von Juden; und in Israel gibt es nicht nur Regierung und Opposition, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Strömungen mit sehr unterschiedlichen Positionen zum Nahostkonflikt.


Multiperspektivisch kann zudem auch die Erörterung von Flucht und Vertreibung angelegt sein: So lassen sich Fluchterzählungen von Juden – gerade auch die hunderttausender Juden aus arabischen Ländern nach 1948 – mit biografischen Berichten der Flucht von Palästinensern vergleichen. In entsprechenden Quellentexten werden individuelle Geschichten konkreter Personen deutlich, was den Zugang jenseits politisch und ideologisch geprägter Schlagabtausche erleichtert.1


6. Falls es in der Arbeit mit Jugendlichen migrantischer Herkunft zur Beschäftigung mit Antisemitismus kommt, sollte dieser in der Pädagogik wenn möglich nicht „alleine stehen“: Wird allein der Antisemitismus als Diskriminierungsform thematisiert, stößt man bei migrantischen Jugendlichen arabischer und muslimischer Herkunft schnell auf Zurückweisung und reproduziert das Bild der Juden als etwas Besonderem. So wird dem Versuch, Antisemitismus unter Muslimen zu thematisieren, oft der Verweis auf „Islamophobie“ bzw. antimuslimischem Rassismus entgegengehalten.2 Verkürzt gesagt: „Der Holocaust ist Euer (deutsches) Problem, wir werden schließlich selbst diskriminiert.“ Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, Stigmatisierung, Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten in allgemeiner Form zu behandeln und den Antisemitismus in diesen Kontext zu integrieren, ohne dabei dessen Besonderheiten (u.a. Antisemitismus als Weltanschauung und Vernichtungsideologie) zu nivellieren. Dazu bieten sich Ansätze der Diversity- und Social-Justice-Pädagogik sowie Konzepte zur Menschenrechtserziehung an, die es ermöglichen, eigene Erfahrungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den Blick zu nehmen und an diese anzuknüpfen. [...]

7. Vor dem Hintergrund der Bedeutung von Medien für die Vermittlung von Weltbildern ist die Förderung von kritischer Medienkompetenz ein wichtiger Beitrag zur Begegnung von Propaganda und Feindbildern. Das kann auch in allgemeiner Form erfolgen – es müssen dazu also nicht unbedingt einschlägige Originalbeiträge in arabischer oder türkischer Sprache herangezogen werden.3


8. Wenn Jugendliche sich der Kooperation und den pädagogischen Bemühungen verweigern, ist zu bedenken, dass nicht selten die Eltern hinter den Positionen von Jugendlichen stehen. Ihnen können und wollen sie, in dieser zumindest für viele Flüchtlinge aus der Region existenziellen Frage, nicht in den Rücken fallen. Es ist also darauf zu achten, Jugendliche nicht in Loyalitätskonflikte zu zwingen, in denen sie den Eindruck haben, sich für oder gegen ihre Eltern entscheiden zu müssen. Zudem steht hinter den Eltern oft die „Community“, die es einzelnen sehr schwer machen kann, aus einem unausgesprochenen Konsens zum Nahostkonflikt auszuscheren – zumal dieser Konsens eine zentrale identitäts- und gemeinschaftsstiftende Bedeutung hat.


Das zeigt sich etwa in der Frage der gegenseitigen Anerkennung der Opfer im Nahostkonflikt und seiner Vorgeschichte - vor allem in Bezug auf die Anerkennung des Holocausts: Die Teilnahme eines Jugendlichen palästinensischer Herkunft am Besuch einer Gedenkstätte kann bereits als Unterstützung Israels betrachtet werden, während – so der Vorwurf – die „eigenen“ Opfer ausgeblendet blieben. Darin kommt zum Ausdruck, dass sich viele Migranten arabischer Herkunft in einer Art „Konkurrenzsituation“ mit Israel und Juden um die Anerkennung von Opfern und Leidensgeschichte sehen.


9. Kommt es im Kontext der Beschäftigung mit dem Nahostkonflikt zu Äußerungen expliziter Feindschaft und Hass gegen Juden (den Jugendlichen muss zunächst die Möglichkeit gegeben werden, ihre Positionen zu äußern), können Hinweise auf die religiöse Toleranz im Islam gegenüber Juden und anderen Religionen hilfreich sein (s. hierzu auch den Film „Allah liebt alle Menschen gleich" – Über religiös begründeten Antisemitismus bei Muslimen). Diese lässt sich mit Texten aus Koran und Sunna belegen, wobei gegebenenfalls auch Eltern und örtliche Imame Unterstützung leisten können. Der Bezug auf die Toleranz in religiösen Dingen hilft allerdings dann nicht weiter, wenn es heißt „Wir haben gar nichts gegen Juden, wir sind nur gegen den Zionismus“, dann aber im Kontext dieses „Antizionismus“ charakteristische antisemitische Stereotypen reproduziert werden.

Ein in diesem Zusammenhang ebenso häufig vorgetragenes Argument lautet, dass Araber gar nicht antisemitisch sein könnten, da sie ja selbst Semiten seien. Hier ist deutlich zu machen, dass Hebräisch und Arabisch lediglich zur semitischen Sprachfamilie gezählt werden, es sich bei der Behauptung, es gebe Semiten, hingegen schlicht um eine rassistische Konstruktion handelt. Außerdem ist der Begriff des Anti-Semitismus in seiner Geschichte immer und ausschließlich für den Hass auf Juden verwendet worden – weshalb natürlich auch „Araber“ antisemitisch sein können.


10. Nicht zuletzt müssen deutsche Pädagoginnen und Pädagogen ihren eigenen Standpunkt reflektieren. Ebenso wie die Positionen vieler Jugendlichen mit migrantischem Hintergrund, sind auch ihre Meinungen und Einstellungen bedingt durch aktuelle Geschichtsbetrachtung und gesellschaftliches Umfeld. Es ist wichtig, das spezifische Gewordensein beziehungsweise die gewachsene Unterschiedlichkeit von Perspektiven ins Bewusstsein zu rücken.


 
Fazit


Der Diskurs über den Nahostkonflikt (incl. dem Feindbild Israel und mitunter antisemitischer Stereotypen) erfüllt für viele Jugendliche arabischer und/oder muslimischer Herkunft verschiedene Funktionen: So dient der Konflikt unter anderem als Projektionsfläche für hiesige Marginalisierungserfahrungen. Häufig wird dabei insbesondere von Jugendlichen arabischer Herkunft eine kollektive Opferperspektive eingenommen: Schuld sind und waren immer die anderen. Das kann zu Hassideologien führen und erschwert Integration und Fortkommen in Deutschland. In der Pädagogik sollten vor diesem Hintergrund im Dialog zunächst die Perspektiven und Erzählungen der Jugendlichen anerkannt und nicht etwa abqualifiziert oder moralisch verurteilt werden. Dazu gehört sehr wesentlich auch die Würdigung einer „arabischen Perspektive“ auf den Nahostkonflikt. Verzerrten Darstellungen und reinen Opferperspektiven jedoch kann durch multiperspektivische Auseinandersetzung mit dem Konflikt, Diversity- und Menschenrechtsansätzen sowie dem Bestreben begegnet werden, die Jugendlichen und ihre Familie nicht als Opfer, sondern als Akteure in schwierigen Verhältnissen erkennbar zu machen. Dazu braucht es Pädagoginnen und Pädagogen, die sensibel gegenüber Feindbildern sind, die sich ihres eigenen Standpunkts bewusst sind, den Mut zur Konfrontation aufbringen und sich auf ihnen unbekanntes Terrain wagen. Hilfreich – aber nicht notwendig – sind dabei Kenntnisse über Geschichte und Gegenwart des Nahostkonflikts, den Antisemitismus, die Geschichte der Migration aus dem Nahen Osten sowie über die rechtliche und (psycho-)soziale Situation von Migranten in Deutschland.

Aus: Jochen Müller: „Warum ist alles so ungerecht?“ Antisemitismus und Israelhass bei Jugendlichen: Die Rolle des Nahostkonflikts und Optionen der pädagogischen Intervention, in: Amadeu-Antonio-Stiftung (Hrsg). „Die Juden sind schuld“. Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft am Beispiel muslimisch sozialisierter Milieus: Reader und Praxisbeispiele zur pädagogischen Arbeit, Berlin 2009.

Fussnoten

1 Quellenmaterial bietet dazu etwa: Noah Flug/Martin Schäuble. Die Geschichte der Israelis und Palästinenser. Bundeszentrale für politische Bildung (BpB), Bonn 2008; Anregungen finden sich auch in den sehr gut lesbaren Beschreibungen von Sari Nusseibeh (Es war einmal ein Land. Ein Leben in Palästina) und Tom Segev (Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels).

2 Zum Vergleich von Antisemitismus und Islamfeindschaft s. Jochen Müller auf ufuq.de: www.ufuq.de/newsblog/1037-ueber-islamophobie-und-antisemitismus.

3 Bei sorgfältiger Auswahl kann dazu auf mit englischen Untertiteln versehenes Material aus dem arabischen TV zurückgegriffen werden: www.memritv.org

Jochen Müller ist Islamwissenschaftler und Mitbegründer des Vereins „ufuq.de – Jugendkultur, Medien und politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft“.