Das Mädchen Selma

Silke Kettelhake

Was bleibt, sind ihre Worte
 
Heute hätte Selma Meerbaum-Eisinger sicherlich jede Menge Facebook-Freundinnen und -Freunde, die ihre Leidenschaft zu den Wörtern, zur Liebe und zum Leben teilen. Doch Selma Meerbaum-Eisinger wurde am 15. Februar 1924 in ein Jahrhundert der Vernichtung und der Kriege geboren. Sie wollte „heiser, atemlos – aber glücklich“ leben, wollte mit ihrem Leben gar „einen Schatten über den Mond werfen“. Ihren letzten Brief an ihre Freundin Renée Abramovici-Michaeli beschließt die 18-Jährige im September 1942 mit „Küsse. Chasak Selma“ – Hebräisch für „Sei stark!“. Am 16. Dezember 1942 wird das feine, hohe Singen der an Typhus erkrankten Selma immer schwächer. Die Typhusinfektion, geschuldet den grauenhaften hygienischen Verhältnissen im Lager Michailowka, geschuldet der unmenschlichen Arbeit im Straßenbau, geschuldet dem immer nagenden, schwächenden Schwindel des Hungers, lässt Selma im Fiebertaumel in einer ungeheizten Unterkunft liegen. Wer krank wird, nicht mehr arbeitsfähig ist, wird erschossen. Mitgefangene verstecken Selma, damit sie, die so gerne leben und lieben wollte, wenigstens sterben kann.
 
Selma ist tot, doch sie lebt fort in ihren Gedichten, die sie in ihrem Album sammelte und von denen 57 auf abenteuerliche Weise gerettet werden konnten. Mit traumwandlerischer Sicherheit verwebt hier ein junges Mädchen in gekonntem Spiel mit der deutschen Sprache Verszeilen, die an Rilke oder Hofmannsthal erinnern mögen. Weil die Gegenwart zu schrecklich war, um sie weiterhin zu ertragen, baut sich Selma ein Haus aus Worten und Gedanken. Es sind Gedichte, deren hellsilbriger Klang das Herz erzittern lässt. Selma, eine entfernte Verwandte des Schriftstellers Paul Celan – „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland / sein Auge ist blau / er trifft dich mit bleierner Kugel / er trifft dich genau“ – schrieb „Weltliteratur, von der die Welt nichts weiß“.
 
Über Czernowitz, der Stadt der Sprachen, liegt ein Stimmengewirr aus Deutsch, Rumänisch, Ukrainisch, Jiddisch, Polnisch, Ungarisch, Armenisch und Russisch. Selma übersetzt aus dem Französischen, aus dem Rumänischen und aus dem Jiddischen ins Deutsche. Anfang der 1940er Jahre zählt Czernowitz etwa 150.000 Einwohner – mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil wie kaum eine andere Stadt Europas. Am 22. Juni 1941 geginnt Nazi-Deutschland den Krieg gegen die Sowjetunion. Wenig später besetzen rumänische Truppen, mit den Deutschen verbündet, die Stadt. Juden verlieren alle Rechte. Das Stigma des Gelben Sterns kennzeichnet Männer, Frauen und Kinder. Der Tempel, die größte Synagoge der Stadt und Bildmotiv von Postkartengrüßen aus Czernowitz, brennt.
 
Ein Einsatzkommando der SS-Einsatzgruppe D, die unter dem Kommando des Brigadeführers Dr. Otto Ohlendorf steht, ermordet im Laufe des Juli 1941 unter Mithilfe der rumänischen Polizei annähernd 3.000 Juden in Czernowitz. Dann zieht die Mörderbande weiter in Richtung Transnistrien. Am 10. Oktober 1941 befiehlt die rumänische Regierung die Deportation der Juden der Bukowina nach Transnistrien. In Czernowitz ist dafür der Gouverneur General Cornelius Calotescu zuständig. Er erlässt am 11. Oktober 1941 den Befehl, in Czernowitz ein Getto für die Juden einzurichten. Etwa 50.000 Juden werden in der Unterstadt in Bahnhofsnähe zusammengepfercht. In einem Arkadengang, den sie notdürftig mit Stofffetzen abzudichten suchen, klammern Selma und ihre Eltern sich bei Wintereinbruch aneinander. Vom 15. Oktober bis Anfang November 1941 werden aus dem Getto 28.391 Juden nach Transnistrien in das Getto Mogilew-Podolski am Ostufer des Dnjestr deportiert. Nur etwa 10.000 von ihnen kehren im Frühjahr 1944 zurück. Von den im Getto Verbliebenen erhalten 15.600 eine Aufenthaltsgenehmigung des Gouverneurs und 4.500 eine vom Bürgermeister Popovici. Sie kehren in ihre Wohnungen zurück, das Getto wird aufgelöst.
 
Am 23. Dezember 1941 schreibt Selma: „Das ist das Schwerste: sich verschenken / und wissen, dass man überflüssig ist, / sich ganz zu geben und zu denken, / dass man wie Rauch ins Nichts verfließt.“ Selma benennt ihr Gedicht mit „Tragik“ und fügt mit einem roten Stift hinzu: „Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu schreiben. Schade dass du dich nicht von mir empfehlen wolltest. Alles Gute Selma.“ Das Album, in das sie schrieb, war für Lejser Fichman bestimmt. Ihre 57 Gedichte sind ihm gewidmet, ihrer ersten und letzten Liebe:
 
„O lege, Geliebter, / den Kopf in die Hände / und höre, ich sing’ dir ein Lied. / Ich sing’ dir von Weh und von Tod und vom Ende, / ich sing’ dir vom Glücke, das schied.“
 
Warum musste Selma, nur weil sie Jüdin ist, das Leben versagt bleiben? Anklage und ohnmächtige Wut scheinen durch die Gedichtzeilen: „Du willst mich töten. / Weshalb? / Warum brüllen die Kanonen? Warum stirbt das Leben / für glitzernde Kronen? / Ein / Leben. Hauf um Hauf / Sterben sie / Stehn nie auf. Nie und nie.“
 
Kurz vor ihrer Deportation im Juni 1942 lässt Selma ihr Album über Umwege Lejser zukommen. Bis 1944 verwahrt Lejser das Album seiner Freundin, von der ihn kein Lebenszeichen mehr erreicht. Nach der Auflösung der Arbeitslager 1944 gibt er das Album an eine Freundin Selmas. Er will nach Palästina. Sein Versuch scheitert. Lejser erreicht Palästina nicht. Ein sowjetisches U-Boot torpediert das über und über mit jüdischen Flüchtlingen belegte Schiff „Mefkure“ im Schwarzen Meer. Renée Abramovici-Michaeli kann aus dem Arbeitslager durch das kriegszerstörte Europa nach Paris fliehen. 1948 erreicht die Schulfreundin Selmas endlich Israel. Der vorausgeschickte Koffer geht verloren; doch sie trägt die Gedichte im Handgepäck. Renée: „Mit den Gedichten Selmas hab’ ich die Heimat herumgetragen und hierher gebracht.“
 
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten gingen Menschen und ihre Welten schlagartig verloren. Selmas Gedichte stehen beispielhaft für die Erinnerung an sie.

Die Publizistin Silke Kettelhake ist seit 2001 Redakteurin bei Redaktion und Alltag. In der Verlagsgruppe Droemer Knaur veröffentlichte sie 2008 die erste Biographie über Libertas Schulze-Boysen (1913-1942), Mitglied der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“. 2010 erschien im Osburg Verlag von Silke Kettelhake die Lebensgeschichte der jüdischstämmigen Bildhauerin Renée Sintenis.